Es ist eines der erfolgreichsten Broadway-Musicals: In Hamburg ist A Chorus Line jetzt in einer freien Inszenierung zu sehen. Als erstes Theater das First Stage das 1975 uraufgeführte Stück nicht nur unabhängig von der ursprünglichen Fassung, sondern auch in einer neuen deutschen Übersetzung von Robin Kulisch spielen. Eines hat sich allerdings nicht geändert: Aus lizenzrechtlichen Gründen wird der rund zweieinhalbstündige Einblick in eine Audition für ein Broadway-Stück ohne Pause gegeben. Der ein oder andere mag da einen langatmigen Theaterabend erwarten. Doch diese Befürchtungen strafte die Premiere am Montagabend Lügen: Die Inszenierung von Till Nau (Regie und Choreographie) ist kurzweilig, mitreißend und absolut sehenswert.
Eine dunkle Wand aus Backsteinen, ein paar Scheinwerfer, große Spiegel und eine schwarze Bühnenfläche mit einer prägnanten, weißen Chorus Line auf dem Boden: Das Bühnenbild versetzt die Zuschauer in die New Yorker Theaterszene. Noch während das Hamburger Premierenpublikum seine Plätze einnimmt, erwacht auch das Bühnengeschehen zum Leben. Die ersten Anwärterinnen und Anwärter auf acht Broadway-Rollen versammeln sich im Shubert Theatre, wärmen sich auf, bereiten sich auf einen Tag vor, der darüber entscheiden wird, ob sie ihren Beruf als Tänzer*in auch leben können. Der Theatersaal wird zu einem Raum voller Hoffnungen und Träume, voller (Selbst-)Zweifel und Ängste.
Es sind die Erinnerungen und Erzählungen der Original-Cast, die in „A Chorus Line“ lebendig werden. Michael Bennett, der die Idee zu dem Stück hatte und das Musical von James Kirkwood Jr. und Nicolas Dante (Buch), Edward Kieban (Gesangstexte) und Marvin Hamlisch (Musik) später auch inszenierte, wollte die Mitglieder der Chorus Line in den Mittelpunkt stellen. Er wollte die Menschen hinter der synchron tanzenden Einheit zeigen und ihre Geschichten erzählen. Immer wieder verlassen die Audition-Teilnehmenden dazu die weiße Linie. Sie treten aus der Reihe, um wie von Regisseur Zach (Benjamin Plautz) gefordert, von sich zu erzählen. Persönlich, echt und ohne Show. Der Ballettsaal, der zum Zufluchtsort vor einer schwierigen Kindheit wird, kommt dabei ebenso ans Licht wie das fehlende Gesangtalent oder der Gang zum Schönheitschirurgen, um dem Können auch die erwartete Optik hinzuzufügen.
Voller Energie, Stimmpower, Emotionen und Einfühlungsvermögen macht die stark besetzte 43-köpfige Cast im First Stage Theater diese Fragmente des (Künstler-)Lebens sichtbar und spürbar. Allen voran Natascha Cecilia Hill. Als Cassie zeichnet sie ein überzeugendes und zugleich berührendes Rollenporträt einer Künstlerin, die nach einem erfolglosen Abstecher nach Hollywood zurück in die Chorus Line treten möchte und die mit Regisseur Zach mehr als nur eine Audition-Situation verbindet. Als selbstbewusste Sheila macht Judith Urban eine darstellerisch und gesanglich gute Figur, Elisabeth Bengs bleibt als Val nachhaltig in Erinnerung, Rike Wischhöfer überzeugt als Judy mit viel komödiantischem Talent und gutem Timing, Leonie Hammel beeindruckt mit warmer und kraftvoller Stimme, während Anna Talimaa mit „Was mein Herz mir sagt“ für einen Gänsehaut-Moment sorgt. Bei den Herren ist es Lukas Poischbeg, der als Paul einen emotional berührenden Monolog auf die Bühne bringt, während Maximilian Vogel als Bobby hervorsticht und Kevin Gordon Valentine als Greg besonders im Gedächtnis bleibt.
Eine dreiköpfige Band spielt die zwölf von Marvin Hamlisch komponierten Songs. Die Musiker lassen die Broadway-Klassiker wie „Eins“ (One) oder „Was mein Herz mir sagt“ (What I did for love) schwung- und wirkungsvoll erklingen. Kaum ist der letzte Ton des großen, gold-schwarz glitzernden Finales verhallt, hält es die Zuschauenden nicht mehr auf ihren Sitzen. Mit viel Jubel belohnen sie eine zeitgemäße Inszenierung, die mit starker Cast und einer stimmigen deutschen Übersetzung überzeugt. Beste Voraussetzungen für die mehr als 100 Shows, die bis Mitte Oktober im First Stage Theater über die Bühne gehen sollen.