Anastasia: Der Mythos als Musical

Wahr ist sie nicht, die Geschichte der Zarentochter Anastasia, die seit gestern im Stage Palladium Theater in Stuttgart gezeigt wird. Das 2017 am Broadway uraufgeführte Musical spinnt – ähnlich wie der gleichnamige Zeichentrickfilm – eine Legende weiter, die sich lange um die jüngste Tochter der letzten Zarenfamilie rankte. Und das gelingt der Inszenierung auf so zauberhaft-fesselnde Weise und mit einer auf der ganzen Linie überzeugenden Darstellerriege, dass man beinahe glaubt, zumindest aber hofft, es wäre ein Funken Wahrheit darin.

Anya oder Anastasia?

Russland in den 1920er Jahren. Das Land ist im Umbruch. Die Zarenfamilie wurde von den Bolschewiken umgebracht. Ein Gerücht macht in St. Petersburg die Runde: Anastasia, die jüngste Tochter, habe als einzige überlebt. Das kommt auch zwei gerissenen Gaunern zu Ohren. Der falsche Graf Wladimir, genannt Wlad, und sein junger, gut aussehender Komplize Dimitri schmieden daraufhin einen Plan, der ihnen zu Reichtum und Ansehen verhelfen soll. Sie beschließen, ein Mädchen als die verschollene Anastasia auszugeben, die falsche Großfürstin der in Paris lebenden Zarenmutter vorzustellen und nach der tränenreichen Familienzusammenführung eine wahrlich fürstliche Belohnung zu kassieren. In der Straßenkehrerin Anya scheinen sie die perfekte Kandidatin gefunden zu haben. Der Plan geht auf. So gut sogar, dass sich irgendwann alle Beteiligten die Frage stellen, ob Anya nicht wirklich Anastasia ist…

Märchen mit Tiefgang

Ja, es ist ein Mythos, den Stage Entertainment mit seiner neuesten Deutschlandpremiere auf die Bühne bringt. Doch die bei Bühnenadaptionen von Märchen und Zeichentrickfilmen oftmals unvermeintliche Eindimensionalität von Gut und Böse bleibt größtenteils  aus, so wie übertriebener Kitsch. Letzterer schimmert nur stellenweise bei den ohne Frage sehr beeindruckenden, manchmal aber doch zu zuckersüß pastelligen Projektionen auf der hochmodernen LED-Wand im Bühnenhintergrund durch. Grundsätzlich setzt die Inszenierung (Regie Carline Brouwer) aber auf eine möglichst realitätsnahe Darstellung, bezieht historische Ereignisse in die märchenhafte Legende ein und lässt Konflikte und manchen Zwiespalt der Charaktere zu.

Besonders deutlich wird das an der Figur des Soldaten Gleb, eindrucksvoll dargestellt von Mathias Edenborn. Hin- und hergerissen zwischen seinem Glauben an das neue, gerechte Russland, dem er pflichtbewusst dient, und seinen Gefühlen für Anya, kann er seinen Auftrag nicht erfüllen – die vermeintliche Großfürstin Anastasia zu töten oder zumindest nach Russland zurückzubringen. Gleichzeitig löst er sich aus den Erwartungen, die an ihn gestellt werden. Als Soldat scheitert Gleb, als Mensch findet er zu sich selbst.

Von der Straßenkehrerin zur Großfürstin

So wie Anastasias „Gegenspieler“ machen auch alle weiteren Hauptfiguren eine nachvollziehbare Entwicklung durch – die wohl umfassendste liegt bei Anya. Judith Caspari zeichnet den Weg von der Straßenkehrerin zur Großfürstin mit unglaublicher Natürlichkeit nach, macht Einsamkeit und Zweifel spürbar, verleiht ihrer Figur Zartheit und Stärke zugleich. Milan van Waardenburg gefällt als direkter, aber auch charmanter und tief im Inneren ebenso verletzlicher Dimitri, der sich in Anya verliebt und erkennt, dass seine wahre Belohnung nicht mit Geld zu messen ist.

Optimal besetzt

Auch die weiteren Rollen sind optimal besetzt: Thorsten Tinney ist ein ausgelassener, gerissener Wlad, dem man nichts übel nehmen kann und der auch seine Verflossene Lily (unglaublich komisch und mitreißend: Jaqueline Braun) wieder für sich gewinnt. Als würdevolle Zarenmutter, die sich nach dem Verlust ihrer Familie tief verbittert in sich selbst zurückzieht und jegliche Hoffnung aufgegeben hat, weiß Daniela  Ziegler zu überzeugen.

Sekundenschnelle Szenenwechsel

Neben der Cast ist das hochmoderne Bühnen-, Projektions- und Lichtdesign ein weiterer Pluspunkt der Inszenierung (Fotos Stage Entertainment). Auf der zentralen, acht Meter hohen LED-Wand im Bühnenhintergrund wechseln die Szenenbilder in Sekundenschnelle. Romanow-Palast, nächtliches Paris, verschneites St. Petersburg oder ein Opernsaal: Ergänzt von drei wandelbaren Drehelementen sowie der Zeit und dem jeweiligen Ort entsprechenden Requisiten werden die vielen Stationen der Reise von Russland nach Frankreich lebendig. Auch, wenn es in manchen Szenen mal etwas weniger technisch sein dürfte – im Großen und Ganzen bilden Cast und Bühnenbild ein harmonisches Ganzes, das durch vielfältige, anspruchsvolle Choreographien (Denise Holland Behnke) sowie authentische Kostüme ergänzt wird. Die Entwürfe von Linda Cho bestechen mit einer unglaublichen Liebe zum Detail – von den zerschlissenen Kleidern der Obdachlosen über den Pariser Charleston-Chic bis hin zu prunkvollen Adelsroben.

Musikalische Reise durch Zeit und Raum

Bleibt noch die Musik: Die Songs von Stephen Flaherty (Musikalische Leitung Boris Ritter) führen auf eine musikalische Reise durch Zeit, Raum und Stil. Ob bezaubernde Ballade, ein Jazz-Song im Stil der 20er, Tango- oder Volksmusikklänge, ein schwungvolles Duett oder eindringliche Melodien mit Ohrwurmgarantie wie „Reise durch die Zeit“: Die Songs berühren und reißen mit, die stimmigen deutschen Texte treiben die Geschichte schlüssig voran und fügen sich harmonisch in das gelungene Gesamtpaket ein, das Anastasia zu einem wundervollen, sehenswerten Musical-Erlebnis macht.