„Es ist fast schon mutig, heute West Side Story zu spielen.“

Leonard Bernsteins West Side Story ist ein Klassiker des Musiktheaters. In Dortmund schreibt das Musical in der Inszenierung von Gil Mehmert zurzeit eine Erfolgsgeschichte: Alle Vorstellungen sind restlos ausverkauft, auch für kurzfristig anberaumte Zusatztermine ist keine Karte mehr zu haben. Teil dieses Erfolgs sind die beiden Hauptdarsteller, Iréna Flury und Anton Zetterholm (Foto oben: Anke Sundermeier), die als Maria und Tony auf der Bühne des Opernhauses stehen. Im Interview mit Theaterliebe.com sprechen sie über Besonderheiten der Inszenierung, magische Theatermomente und Long Run Produktionen.

West Side Story gilt als „Mutter aller Musicals“ und wurde schon unzählige Male inszeniert. In Dortmund läuft sie jetzt sehr erfolgreich. Warum funktioniert die Geschichte auch heute noch?

Iréna Flury: Die Musik ist wunderschön und die Geschichte ist zeitlos. Man spielt ja auch Romeo und Julia immer noch. Die Mischung aus Liebe und Tod ist etwas, was die Menschen berührt. Es ist ja tatsächlich so: Auch wenn die Geschichte in den 50er Jahren spielt, der Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Gangs, zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft oder Hautfarbe ist aktuell.

Anton Zetterholm: Stimmt. Ich finde, es ist fast schon mutig, heute West Side Story zu spielen. Vor allem auch hier in Deutschland. Das Thema ist super aktuell. Und dann ist da noch diese unsterbliche Musik von Leonard Bernstein, die perfekt ist für Choreographien. West Side Story ist ein tolles Musical, weil es alles hat. Es ist ein Triple Threat.

Sie haben West Side Story im Sommer 2017 in Magdeburg gespielt, Open Air. Abgesehen von dem Wechsel von draußen nach drinnen: Wie hat sich die Inszenierung von Magdeburg nach Dortmund verändert?

Iréna Flury: Wir sind seit Magdeburg ein noch jüngeres Ensemble geworden. Wir haben tolle Studenten dabei, von der Folkwang Essen. Das ist für dieses Stück wirklich großartig. Dadurch bekommt der Mord und Totschlag zwischen den Gangs nochmal etwas Berührendes. Sie sind noch so jung und zart. Und gehen dann aber völlig in diese Aggression rein. Dann kriegt das Ganze, finde ich, eine Durchschlagskraft, die man sich auch erwünscht von diesem Stück.

Anton Zetterholm: Wenn 1000 Menschen absolut still sind, keiner hustet, nichts raschelt – dann ist das etwas Besonderes. Und das hat man draußen einfach nicht. Das ist das Magische am Theater. Viele denken, ich spiele für den Applaus. Aber so ist es nicht. Es gibt ein paar Momente in diesem Stück, in denen es so ganz still ist – und das genieße ich sehr.

Welche Momente sind das?

Anton Zetterholm: Zum Beispiel – Achtung Spoiler Alert (schmunzelt) – wenn Tony glaubt, dass Maria tot ist. Das ist für mich eine lange, dramatische Pause. Da spiele ich wirklich auf diese Stille hin. Das ist schon cool.

Gibt es immer wieder neue Facetten an ihrer Rolle, die sie mit der Zeit entdecken?

Anton Zetterholm: Ja, klar. Ich hab´ das Stück parallel in Schweden gespielt, was ganz anders war. Und natürlich spielt man damit.

Iréna Flury: Wenn ich an Rollen rangehe, kommt alles von mir. Mein Zugang zu dem Beruf ist weniger ein Verstellen als ein Sich öffnen. Dadurch passiert es automatisch, dass sich – abhängig davon, wo ich persönlich gerade stehe – auch eine Rolle verändert. Je nachdem, was ich zum Beispiel in den Nachrichten lese. Jetzt gerade ging es wieder um diese dumme Mauer, die Donald Trump plant. Und ich habe gedacht: Eigentlich müsste man West Side Story mal beinhart am Broadway aufführen – mit US-Amerikanern und Mexikanern anstatt Puerto Ricanern. Da gehe ich gleich noch einmal mit einem anderen Gefühl auf die Bühne. Oder der Klassiker: Man ist frisch verliebt und spielt dann so eine Rolle wie Maria. Da kann man natürlich auch gleich so viele Hormone „mitnehmen“.
Bei mir ist die Maria von 2017 gegenüber der Maria vom Probenbeginn 2018 und der Maria heute immer ein wenig anders, in kleinen Nuancen. Ich finde das schön und richtig.

Gibt es Szenen in dem Stück, die sie besonders herausfordern?

Anton Zetterholm: Auf jeden Fall. Es ist ziemlich technisch, was ich hier machen muss. Es ist wirklich Leistungssport, Tony zu spielen. Vor allem gesanglich. In der einen Minute muss ich sehr schön singen, in der nächsten Szene schreien. Da muss man eine Balance finden, damit man das durchhalten kann – gerade wenn man, wie an Neujahr, zwei Shows am Tag spielt. Aber das ist im Musicaltheater sowieso wichtig. Hier spielen wir zwar nicht so häufig, aber oft sind es acht Shows pro Woche und da braucht man eine gute Ausbildung.

Iréna, Sie spielen zurzeit in „I am from Austria“ in Wien. Anton, Sie stehen ab April auch wieder in einer Long Run Produktion, in „Paramour“, auf der Bühne. Wie gelingt es Ihnen, eine Rolle Abend für Abend – manchmal sogar zwei Mal am Tag – so zu spielen, dass für den Zuschauer keine Routine spürbar wird?

Anton Zetterholm: Man muss sich bewusst machen, dass Menschen da sitzen, die die Show zum ersten Mal sehen. Gerade Produktionen, die aus Amerika geholt werden, sind sehr teuer. Und ich weiß, dass die Kartenpreise sehr hoch sind. Das darf man nicht vergessen. Auch nicht, wenn man am Sonntagabend die achte Show spielen muss. Oder am Freitagabend, wenn man noch fünf Shows in 40 Stunden vor sich hat. Das ist natürlich hart. Aber gleichzeitig sind wir sehr happy und glücklich, das machen zu dürfen. Es ist schon eine Ehre. Aber das muss man sich ganz oft auch wieder selbst sagen.

Iréna Flury: Ich habe aus dem Grund ganz lange gesagt, ich mache kein Long Run. Weil ich ein „Sensation Junkie“ bin, der seine Rolle und das Stück immer erleben möchte. Und ich hatte das Gefühl, wenn ich das acht Mal pro Woche mache, dann kommt mir das abhanden, was ich an meinem Beruf so liebe. Also habe ich es aus Prinzip nicht gemacht. Aber ich glaube auch, dass man seine Prinzipien immer wieder mal überprüfen sollte (lacht). Bei „I am from Austria“ habe ich mich erstmal wegen des Stücks und der Musik dafür entschieden. Trotz Long Run. Und ich muss jetzt aber sagen….

Anton Zetterholm: ….du liebst es jetzt.

Iréna Flury: Ja ich lieb´s wirklich. Es ist nochmal ein ganz anderer Aspekt des Berufs. Abend für Abend wach und aufmerksam zu bleiben, das ist die große Kunst dabei. Ich könnte es nicht, wenn ich nicht total bei meinen Kollegen wäre mit meiner Aufmerksamkeit. Das muss natürlich für alle gelten. Es ist wie ein Pakt untereinander. Dann geht das, dass man sich jeden Abend so gut man kann zur Verfügung stellt – mit seiner Stimme, seiner Seele und seinem Herzen. Gerade bei einer Show wie „I am from Austria“, die nicht Mord und Totschlag ist, geht das.  Und ich habe bei „I am from Austria“ das Glück, dass ich Kollegen habe, die mich auch immer wieder überraschen, die eine ganz winzige Kleinigkeit anders machen. Oder es ändert sich der Tonfall ein wenig und etwas, was immer passiv war, ist auf einmal aggressiv. Für mich ist das total spannend. Ich habe schon zu Anton gesagt: Ich bin gerade eine Touristin in meinem eigenen Leben (beide lachen). Hätte nicht gedacht, dass es mir so Spaß machen könnte.

West Side Story ist ja – anders als zum Beispiel „I am from Austria“ – ein eher ernstes Stück mit tragischem Ende. Fällt es da schwerer, die Rolle nach dem Schlussapplaus „abzustreifen“?

Iréna Flury: Ich glaube, wenn ich West Side Story en suite spielen würde…das müsste ich mir überlegen. Oder ich müsste mir mindestens alle zwei Wochen Psychotherapie verordnen lassen. Wir arbeiten ja schon sehr mit unseren Seelen. Wir lernen immer besser, uns zu schützen und man hat so seine Techniken, aber ganz spurlos geht es nicht.

Anton Zetterholm: Also…ich bin schon so oft „gestorben“. Ich habe mal gezählt. Es waren, glaube ich, 1500 Mal. Das heißt, das kann ich schon. Das geht. Das ist mein Beruf.

Iréna Flury: Ja. Aber die Männer dürfen sterben. Die Frauen müssen immer leiden und trauern.

Anton Zetterholm: Bei West Side Story ist das auch anders. Sehr anders. Das ist ja so toll am Musical. Es ist vielseitig. Und trotzdem höre ich oft: „Ach, ich bin kein Fan von Musicals.“ Das bin ich echt leid. Zu sagen „Ich mag Musicals nicht“ ist wie zu sagen „Ich mag kein Kino“. Es gibt 1000 verschiedene Stücke: mal mit Happy End, mal tragisch. Mit Stories, aus denen man etwas lernen kann oder eben auch nicht – weil sie einfach nur unterhalten wollen. Und das ist dann auch ok.

Gibt es bestimmte Rollen, die Sie noch spielen möchten?

Anton Zetterholm: Die Frage höre ich so oft. Aber, nein. Nicht wirklich. Jetzt, wo ich Tony gespielt habe – die Hauptrollen der Hauptrollen – das ist schon cool. Das würde ich immer wieder machen.

Iréna Flury: Es kommt ja auch immer auf so viele Dinge an. Unser Job ist ja immer Teamwork – so kann eine Rolle unerwartet mit der richtigen Regie und Partnerinnen und Partnern zur Traumrolle werden, oder die Traumrolle ohne die richtige Regie und passende Kollegen nicht eine solche bleiben.

Ist in Zukunft eine weitere Zusammenarbeit mit dem Theater Dortmund geplant?

Anton Zetterholm: Ich weiß nur, dass es sehr, sehr gut läuft hier. Und jeder Künstler und jeder Produzent liebt einen Erfolg. Wir fühlen uns wohl, hier in Dortmund. Es ist ein tolles Haus und eine sehr tolle Intendanz. Also mal sehen….wir werden bestimmt in Kontakt bleiben.

 

Unsere Rezension zur West Side Story in Dortmund gibt es hier zu lesen. Hinter die Kulissen der Inszenierung blickt Theaterliebe in diesem Bericht.