Intensiv und berührend: Ku’damm 56 in Berlin

2016 wurde der Fernsehdreiteiler „Ku’damm 56“ zu einem großen Erfolg. Die TV-Trilogie begeisterte ein Millionenpublikum und wurde mit zwei Fortsetzungen  weitererzählt. Die Bühnenversion der Geschichte um die konservative Tanzschulinhaberin Caterina Schöllack und ihre drei Töchter feierte Ende 2021 im Berliner Theater des Westens ihre Uraufführung. Als Musical, das statt seichtem 50er-Jahre-Kitsch ein eindringliches Stück Zeitgeschichte auf die Bühne bringt: mit einem großartigen Ensemble, berührenden Charakteren, starken Choreographien und Songs, die so vielschichtig sind, wie die Geschichte, die sie erzählen.

Zeitzeugnis statt Fifties-Klischees

Kein Kitsch. Keine Fifties-Klischees. Die Geschichte der Familie Schöllack erwacht im Theater des Westens in reduzierter Kulisse zum Bühnenleben. Hohe grau verputzte, von Rissen durchzogene Seitenwände und ein mehrstöckiges Gerüst mit verbindenden Leitern (Kulissendesign: Andrew D. Edwards) bilden den Rahmen für temporeiche Szenenwechsel, die durch das genaue Lichtdesign von Tim Delling noch unterstützt werden. Blickfang ist der goldene Kronleuchter an einer großen, beweglichen Spiegeldecke. Die kommt immer dann zum Einsatz, wenn aus der Tanzschule Galant oder der Waffenfabrik Frank der Nachtclub Mutter Brause wird. Hier tanzt die Jugend bei lautem Rock´n´Roll in Lederjacke und Petticoat gegen die einschränkenden Konventionen an.

Zwischen Verdrängung und Aufbruchsstimmung

Ku’damm 56-Autorin Annette Hess ist es gelungen, ihr Drehbuch für die Bühne zu adaptieren und den umfangreichen Stoff mit seinen vielen Erzählsträngen zu reduzieren ohne die starke Strahlkraft des Stücks zu verlieren. Auch die Musical-Version zeichnet das ausdrucksstarke Porträt einer Familie im Nachkriegsdeutschland, deren Mitglieder von den Folgen des Krieges, prüden Moralvorstellungen und festen Geschlechterrollen geprägt sind. Sie suchen ihren Platz in einer Welt, in der vieles im Umbruch ist. In der Vergangenheitsbewältigung, Verdrängung und Aufbruchstimmung aufeinandertreffen.

Während die geltenden Konventionen zwei Töchtern scheinbar Halt geben, findet die dritte im Aufbegehren gegen gesellschaftliche Normen zu sich selbst: Monika, das schwarze Schaf unter den drei Schöllack-Töchtern, sieht ihr Glück nicht an der Seite einer guten Partie. Sie fühlt sich fehl´am Platz in dieser Welt, in der Frauen repräsentatives Beiwerk und verantwortlich für Kinder, Kochwäsche und Sonntagsbraten sind.

Glaubwürdige Charakterzeichnung

Sandra Leitner spielt Monika mit unglaublicher Präsenz und gesanglich großartig. Glaubwürdig zeichnet sie die Entwicklung von einem unsicheren Mädchen zu einer selbstbewussten jungen Frau nach, die im Tanzen Befreiung findet, sich letztlich selbst akzeptiert und ihren eigenen Weg geht. Sogar in den Momenten, in denen sie verletzt und gedemütigt oder von der Mutter zurückgewiesen und allein gelassen wird, ist bereits die starke Persönlichkeit einer Frau zu erahnen, die auf sich selbst baut und vertraut – und nicht auf festgefahrene Konventionen.

Ich tanz allein

Mit dem Draufgänger und Musiker Freddy (charismatisch und stimmstark: David Jakobs) verbindet Monika eine Affäre und die Liebe zum Rock´n´Roll. Mit dem Farbikantensohn Joachim Frank die Suche nach Anerkennung und die gestörte Beziehung zu einem Elternteil. Philipp Nowicki zeigt die Entwicklung des unter dem Tod seines Bruders und der Verachtung seines Vaters leidenden Fabrikantensohns authentisch. Beide Männer begleiten und prägen Monikas Entwicklung – doch letztendlich entscheidet sie sich für sich selbst.

Den Schein wahren – um jeden Preis

Ganz anders Monikas Schwestern: Helga lebt auf den ersten Blick den Traum ihrer Mutter. Sie heiratet mit Wolfgang van Boost (Dennis Huoka) einen angehenden Staatsanwalt aus gutem Haus. Selbst als dieser ihr seine Homosexualität gesteht, hält sie an der Ehe fest und den Schein beinahe trotzig aufrecht.Tamara Pascual gibt die älteste Tochter mit einer Mischung aus Ernsthaftigkeit, Verantwortungsbewusstsein und leicht naivem Glauben an das bestehende Rollenmodell.

Mit deutlich mehr Kalkül geht ihre Schwester Evi die Ehe an. Isabel Waltsgot überzeugt gesanglich und darstellerisch als die Tochter, die ihre Gefühle für einen einfachen Maurer zurückstellt und stattdessen auf eine Verlobung mit dem deutlich älterem Nervenarzt hinarbeitet – gänzlich unbeeindruckt von dessen Nazi-Vergangenheit.

Kühle Strenge und Verletzlichkeit

Katja Uhlig beeindruckt mit ausdrucksvoller, auch in den hohen Tönen souverän geführter Stimme beeindruckt. Sie spielt Caterina Schöllack mit kühler Strenge und kerzengerader Haltung . Gleichzeitig lässt sie die Traurigkeit und Verletzlichkeit ihrer Figur durchschimmern. Die toughe Tanzschulbesitzerin hat die Lektionen, die sie ihre Kinder lehrt, selbst schmerzhaft lernen müssen. Spürbar wird das insbesondere in dem Song „Ich lass nicht zu, lässt du dich geh´n“. Mit diesem lässt sie – wenn auch nur ganz kurz – einen Blick auf ihre ihre eigene (Leidens-)Geschichte zu.

Rumba-Rhythmus und Rock´n´Roll

Überhaupt gelingt es der Musik von Peter Plate und Ulf Leo Sommer, die Handlung konsequent zu stützen und die Entwicklung der Figuren zu transportieren. Die Songs kommen mal im Rumba-Rhythmus, Walzertakt oder mit zackigen Marsch- und schwungvollen Operettenklängen daher.  Dann wieder im Pop-Sound oder fetzigem Rock´n´Roll. Aber immer ausdrucksstark choreographiert von Jonathan Huor und großartig gespielt von der „Mutter-Brause-Band“, die die ganze Show hindurch im Zentrum der Bühne performt.

Der ganz eigene Charakter der einzelnen Songs mit gefühlvoll-nachdenklichen, kühl-distanzierten oder frech-komischen Textzeilen  lässt die Zuschauer in die Gefühls- und Gedankenwelt der Protagonisten eintauchen. Regisseur Christopher Drewitz versteht es in seiner tempo- und ideenreichen Inszenierung die einzelnen Erzählstränge geschickt miteinander zu verweben und die Beweggründe, Sorgen und Hoffnungen der Figuren trotz aller Komplexität der Handlung nahvollziehbar zu machen.

So bietet Ku’damm 56 einen intensiven Musicalabend, der berührt und begeistert. Einen Abend, der kein Tanzmusical und kein Gute-Laune-Stück verspricht. Aber Unterhaltung im besten Sinne. Einen Abend zum Nachdenken. Zum Mitfühlen. Zum Lachen. Zum Mitwippen. Ja, auch zum Mitfeiern. Und das macht der gesamte Theatersaal spätestens bei der Zugabe. Bei dem rhythmisch-rauen „Berlin, Berlin“ hält es so gut wie niemanden mehr in seinem Sitz.

Weitere Informationen zum Musical Ku’damm 56 gibt es hier.