Seit vier Jahrzehnten ist die Deutsch-Popband Pur erfolgreich. Sie gewann mehrmals die Goldene Kamera, mehrfach den Echo, bekam über 20-mal Platin. Vergangenen Herbst ist eine weitere „Auszeichnung“ hinzugekommen: ein Musical mit den Songs der Band. Im Oktober 2023 feierte „Abenteuerland“ Premiere im Capitol-Theater Düsseldorf. Ein weiteres Compilation-Stück in der Musicallandschaft, das es versteht, Songtexte und Handlung geschickt miteinander zu verweben. Auf diese Weise ist ein Werk entstanden, das nicht nur Pur-Fans ans Herz und ins Ohr gehen kann.
Der Aufwand war groß. Der Weg zum neuen Musical ein kleines Abenteuer für sich: Über Jahre arbeitet Produzent Martin Flohr am Konzept eines Bühnenstücks rund um die Pur-Hits, das Capitol-Theater wurde umfangreich umgebaut, aus mehr als 1000 Bewerbenden wurden die 25 Darstellenden gecastet, insgesamt sind rund 120 Leute am Produktionsprozess beteiligt. Ein Aufwand, der sich gelohnt zu haben scheint: Sieben Monate nach der Premiere wird die als Open-Run-Musical angesetzte Produktion in der besuchten Vorstellung mit langem, begeisterten Applaus und Standing Ovations gefeiert.
Vielleicht ist ja die Geschichte selbst ein Grund dafür. Die Handlung ist ebenso aus dem Leben gegriffen, wie die Texte von Pur-Sänger Hartmut Engler. Die Drei-Generationen-Story um Familie Schirmers schafft viele Identifikationspunkte irgendwo zwischen Midlife Crisis und pubertärem Gefühlschaos, zwischen später Liebe und echter Freundschaft. Da ist die Ehefrau, die sich nach zwanzig gemeinsamen Jahren nicht – mehr – gesehen fühlt. Der Mann, der sich in Arbeit und Sport flüchtet, die Oma, die als Witwe loslassen lernen muss, der Sohn, der vom Rockstar-Dasein träumt und die Tochter, die unglücklich verliebt und in der Schule die Außenseiterin vom Dienst ist. Diese Familienkonstellation schafft die Basis für scheinbar alltägliche Themen und Konflikte. Es geht um Mobbing und erste Liebe, um ein Coming-out und einen Selbstmordversuch, um Dating-Apps und Seitensprünge, um Verlust und neues Glück.
Das ist viel Stoff für einen Musicalabend. Und ja, stellenweise mag das sehr konstruiert wirken – wäre da nicht das große Gefühl und das kleine ironische Augenzwinkern, mit dem „Abenteuerland“ auf die Bühne gebracht wird (Regie Dominik Flaschka). Und wären da nicht die gekonnt arrangierten und stellenweise umgetexteten 30 Songs. Sie fügen sich so harmonisch in die Handlung ein, dass sie ein Bestandteil von ihr werden und das Geschehen kommentieren und vorantreiben, statt nur als bekannte Ohrwürmer in den Köpfen der Pur-Fans im Zuschauersaal hängenzubleiben. Dafür dass Story und Songs ihre gesamte Wirkung entfalten können, sorgt auch die neu gestaltete Bühne (Stage Design Stephan Prattes) inklusive Licht- und Videodesign (Ben Cracknel / Leo Flint). Zum ersten Mal kann im Capitol-Theater die gesamte Bühnenbreite von 25 Metern bespielt werden. Der aufwändigen Bühnentechnik und dem Set mussten die früheren Bühnenportale weichen, um Platz für den 60 Meter langen und sechs Meter hohen Rundhorizont aus sieben LED-Screens sowie eine doppelte Drehscheibe zu schaffen.
In diesem Rahmen erweckt die 25-köpfige Cast die Mehrgenerationen-Geschichte zum Leben. Besonders beeindruckend gelingt das Mascha Volmershausen als Teenie-Tochter Anna, die von Mitschülern gemobbt wird, sich als Zaungast in ihrem eigenen Leben fühlt und gleichzeitig von ihrem beliebten, selbstbewusst-lässigen Bruder (Johann Zumbült) in den Schatten gestellt wird. Sie zeichnet ein Rollenporträt, das nah geht und weiß darstellerisch wie gesanglich auf ganzer Linie zu überzeugen. Auch die ältere Generation auf der Bühne – Oma Lena (Regina Venus) und ihr heimliches Online-Date Karl (Harry Poels) – berührt, und das auf der ganzen Klaviatur der Gefühle: Während die beiden Darstellenden beim Pur-Hit „Wenn sie diesen Tango hört“ so manchen im Zuschauersaal zu Tränen rühren, haben sie beim Ohrwurm „Lena“ viele Lacher auf ihrer Seite.
Carolin Soyka versteht es, als Mutter Petra den Zwiespalt zwischen der Fürsorge für ihre Familie und dem Wunsch nach mehr Zeit für sich und ihre Träume authentisch darzustellen. Hannes Staffler bringt die Wandlung seiner Figur glaubwürdig auf die Bühne. Der ich-orientierte, in Beruf und Sport aufgehende Vater erkennt, welche Lücke er in seiner Familie hinterlassen hat. Das Publikum auf ihrer Seite hat Jana Stelley: Für ihre frischen, teils freche und sehr natürliche Interpretation von Beate, Petras bester Freundin, bekommt sie viel Applaus. Als eine Art Erzähler fungiert Kim-David Hammann. Er beobachtet und kommentiert das Geschehen im „Abenteuerland“, eröffnet das Stück sowie den zweiten Akt und greift immer wieder auch direkt in die Ereignisse ein.
Auch Konzertatmosphäre kommt zwischendurch auf, wenn Sohn Alex beim Bandwettbewerb zur Gitarre greift. Die Szene ist ein Vorgeschmack auf das, was nach dem Schlussapplaus kommt: Ein Zugabe-Medley der beliebtesten Pur-Songs lädt zum Mitsingen, Klatschen und Feiern ein. Eine Chance, die nur zu gern von den Zuschauern im gut gefüllten Saal genutzt wird. Viele tanzen zu „ihren“ Lieblingshits und noch mehr stellen ihre Textsicherheit bei den kurzen musikalischen Abstechern von „Abenteuerland“ über „Lena“ oder „Hab mich wieder mal an dir betrunken“ unter Beweis. Und selbst für diejenigen, die mit der Musik der Band aus Bietigheim-Bissingen eigentlich nicht viel anfangen können, bietet das Musical einen unterhaltsamen Wohlfühlabend mit einer überzeugenden Cast – und der ein oder anderen Melodie, die beim Heimweg noch für eine Weile im Kopf bleibt.
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