Big Fish in Gelsenkirchen: Ein ganz großer Fang

Wieviel Fantasie braucht die Wirklichkeit? Wieviel Wahrheit steckt in Märchen? Und was bleibt, wenn die eigene (Lebens-)Geschichte zu Ende geht? Diesen Fragen geht Big Fish nach und verwebt Traumwelt und Realität zu einem magischen Bühnenwerk. In Koproduktion mit der Theaterakademie August Everding und der Hochschule für Musik und Theater München zeigt das Musiktheater Gelsenkirchen das Musical von John August (Buch) und Andrew Lippa (Musik und Texte) in einer Inszenierung, die so fantasievoll und traumhaft ist, wie die Geschichte selbst.

Von Nixen und Riesen

Keine Geschichten. Keine Witze. Keine Anekdoten. Was Will an seinem Hochzeitstag von Vater Edward verlangt, ist für den ehemaligen Handelsvertreter nahezu unmöglich. Er liebt Geschichten. Sie sind sein Leben. Und sein Leben wiederum verwandelt Edward Bloom in fantastische Märchen. Er erzählt immer – von der Hexe, die ihm seinen Tod zeigte. Von dem Riesen, der zu seinem besten Freund wurde. Von einer betörend schönen Nixe, die ihm seinen ersten Kuss gab. Vor allem aber erzählt er von sich selbst. Er ist der Held seiner Geschichten, die Will von klein auf unzählige Male gehört hat. Und die dieser hinterfragt, je älter er wird. Kein Wunder also, dass es auf der Hochzeit seines Sohns zum Eklat kommt, weil Edward wieder (zu) viel erzählt. Der lange schwelende Konflikt zwischen dem Träumer und dem Rationalisten eskaliert. Will bricht mit seinem Vater. Erst als dieser schwer erkrankt, kehrt er zurück und macht sich – mittlerweile selbst werdender Vater – auf die Suche  nach dem Mann hinter den Geschichten.

Fantasiewelt trifft auf die Wirklichkeit

Geschickt verknüpft Regisseur Andreas Gergen in seiner Inszenierung Fiktion und Realität. Er kreiert fantastische und lebendige Bilder, schafft ruhige und berührende Momente. Die Wechsel zwischen den Handlungssträngen und durch die Jahrzehnte hindurch gelingen dabei so flüssig und nachvollziehbar, dass  sich der Zuschauer in der märchenhaft-bunten Fantasiewelt ebenso zurechtfindet wie im hektischen New York oder eher beschaulichem Alabama. Eindrucksvolle Projektionen (Sam Madwar) und eine geschickt genutzte Theatertechnik lassen Zauberwald und Zirkuszelt entstehen und den Riesen Carl (Oliver Aigner) über die Bühne schreiten. Die Kostüme von Ulli Kremer sind in der Fantasiewelt farbenfrohe Hingucker, in der Wirklichkeit entsprechen sie ganz dem jeweiligen Zeitgeist.

Beeindruckende „Geschichtenerzähler“

Als Edward Bloom spielt sich Benjamin Oeser charismatisch, wandlungsfähig und glaubhaft durch ein ganzes Leben – durch all die Jahre vom Teenager bis zum sterbenskranken Alten. Den fabulierenden, begeisterungsfähigen Handelsvertreter gibt er ebenso überzeugend wie den vom Sohn zurückgewiesenen, verletzlichen Vater. Dennis Hupka mimt den realistischen, nüchternen Reporter Will, der zu der (Fantasie-) Welt seines Vaters zunächst keinen Zugang findet und erst lernen muss, hinter die fantastischen Erzählungen zu blicken. Besonders berührend gelingt ihm die Szene im zweiten Akt, als Will am Sterbebett seines Vaters selbst zum Geschichtenerzähler wird.

Theresa Christahl gefällt als Edwards große Liebe Sandra  auf ganzer Linie. Auch wenn die Rolle einem eher veralteten Frauenbild entspricht: Die Entwicklung vom temperamentvollen, jungen Mädchen zur Ehefrau und Mutter zeichnet sie überzeugend nach und lässt keinen Zweifel daran, dass Sandra Edward mit oder gerade wegen all seinen Fantastereien liebt. Sina Jacka zeigt als Wills Frau Josephine eine tolle Leistung, Rüdiger Frank ist als wahrhaft bissiger Zirkusdirektor Amos großartig.

Begeistertes Publikum

Sind es im ersten Akt Edwards fantastische Geschichten, die das Geschehen bestimmen, rückt im zweiten Akt die Wirklichkeit verstärkt in den Mittelpunkt und Will in den Fokus. Auf der Suche nach der Wahrheit hinter den „Hirngespinsten“ seines Vaters, entdeckt er vieles neu, seine Sicht auf die Welt bekommt kleine Risse. Risse, durch die immer wieder auch etwas Fantasie aufblitzt. Und wenn „Big Fish“ nach 2,5 Stunden ein begeistertes Publikum aus seiner magischen Wirklichkeit entlässt, ist zumindest klar, was am Ende von Edward Bloom bleiben und die nächste Generation prägen wird: seine Geschichte(n).

Fotos: Karl und Monika Forster

Big Fish ist noch bis Ende Juni im Musiktheater im Revier zu sehen. Weitere Informationen und Karten gibt es hier.