Wie Musical-Darstellerin Alice Wittmer den Corona-Lockdown erlebt
Als Anfang Oktober 2019 der Deutsche Musical Theaterpreis verliehen wurde, war das für Alice Wittmer ein ganz besonderer Abend: Sie war als beste Nebendarstellerin für ihre Rolle der Catherine in dem Musical „Sherlock Holmes – Next Generation“ nominiert. Im März des letzten Jahres ging dann ein weiterer beruflicher Traum in Erfüllung: Alice Wittmer bekam die Zusage für eine Rolle in „TINA – The Tina Turner Musical“. Seit August 2020 gehört sie zum Ensemble des Musicals. Gespielt hat sie das Stück bisher noch kein einziges Mal – in keiner Probe, in keiner Aufführung. Die Corona-Pandemie hat auch den Arbeitsalltag von Alice Wittmer völlig ausgebremst.
Von fünf Produktionen auf Null
Noch im März 2020 spielte Alice Wittmer fünf verschiedene Shows gleichzeitig. Sie war ständig unterwegs. Stand unter anderem als Ana Conda in „Falco – Das Musical“ in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf der Bühne. War in „Ein Amerikaner in Paris“ im Theater Kiel zu sehen. Oder in „Sisters in Trouble“ im FRITZ in Bremen. Dann kam Corona und das Theaterleben zum Stillstand. „Am Anfang habe ich noch gedacht, das ist ja ganz gut, um einfach mal runterzukommen“, blickt die gebürtige Singenerin und Wahl-Hamburgerin zurück. Sie nimmt sich Zeit. Für sich. Für ihren Freund. Für ihre Familie. Und auch für Dinge, die sonst einfach liegenbleiben. Doch nach zwei Monaten fühlte sich Alice Wittmer erholt: „Ich war entspannt. Sogar die Steuererklärung war erledigt“, sie schmunzelt. „Ich wollte einfach nur wieder loslegen.“
Zwei Auftritte – in einem Jahr
Doch wirklich loslegen – das kann sie auch ein ganzes Jahr später wie all ihre Kolleg:innen noch nicht. Ein einziges Mal stand sie im Juli 2020 noch auf der Bühne. Bei einem „Blues Brothers“-Konzert vor 180 Menschen im mehr als 1.000 Zuschauer:innen fassenden Metropol Theater Bremen. Voller Vorfreude und Hoffnung, dass es jetzt wieder richtig losgehen kann. Eine Hoffnung, die von der zweiten Pandemie-Welle weggespült wurde. Das nächste Mal sang sie dann Ende Januar 2021 bei dem Livestream-Konzert „Musical beats Corona“. „Es war superschön, wieder mal alles rauszulassen“, erzählt die 32-Jährige. „Aber man singt eben in eine schwarze Kamera, ohne Rückmeldung vom Publikum. Für mich ist das schwierig. Ich brauche die Interaktion.“
„Man fühlt sich ein wenig wie das ungeliebte Stiefkind.“
Wann sie diese Interaktion wieder live erleben kann? Ungewiss. Wann sie ihre Traumrolle in Tina endlich spielen darf? Unklar. Auch nach dem letzten Bund-Länder-Gipfel Anfang März geht das Warten für die Kulturbranche erst einmal weiter. „Man fühlt sich wie ein wenig so wie das ungeliebte Stiefkind“, sagt Alice Wittmer. Sie habe die Pressekonferenz verfolgt und immer wieder gedacht: Wann wird endlich mal das Wort Kultur in den Mund genommen? „Nur damit man auch weiß, das ist auf dem Schirm. Bisher bekomme ich das Gefühl, wir interessieren keinen Menschen“, sagt die sympathische Darstellerin ganz ehrlich. Sie wünscht sich mehr Wahrnehmung. „Es ist, als würde es uns nicht geben. Als wäre unsere Arbeit ein Hobby. Dabei ist es ein ernstzunehmender, anstrengender Beruf.“
Musik ist ihr Leben und ihr Anker
Für Alice Wittmer, die sich selbst als Vollblutmusikerin beschreibt, ist es aber noch viel mehr. Musik ist ihr Leben. Und in der Pandemie auch ihr Anker. „Musik bringt mich überhaupt dazu aufzustehen. Sie ist der Hauptgrund, der mich atmen lässt, gerade jetzt“, sagt sie. Und so wie sie es sagt, klingt es nicht pathetisch. Oder kitschig. Sondern einfach nur echt. „Musik gibt mir die Kraft und Energie, mich nicht zu vergraben, sondern kreativ zu bleiben.“ Also macht sie auch im Lockdown weiter Musik. Sie singt Songs im Tonstudio ein – demnächst auch gemeinsam mit ihrem Sherlock-Kollegen Merlin Fargel – oder erstellt A-Capella-Videos in denen sie bekannte Popsongs von Abba, TLC oder Eurythmics covert – mehrstimmig.
Mehrstimmiger Gesang – mit sich selbst
Eine Idee, die aus der Not heraus entstanden ist. „Da ich aufgrund der Beschränkungen nicht mehr mit anderen zusammen singen konnte, habe ich eben mit mir selbst gesungen.“ Sie lacht. Also singt sie mal vierstimmig. Mal sechsstimmig. Und auch mal achtstimmig. „Ich liebe Mehrstimmigkeit einfach“, so Alice Wittmer. „Höre ich einen Song, singe ich nie die Melodie mit. Ich habe immer direkt andere Stimmen im Kopf und singe dann die zweite oder dritte Stimme. Das finde ich spannender.“ Ihre Videos leben dabei nicht allein von ihrem A-Capella-Gesang, sondern auch von kleinen Choreographien und den verschiedenen Charakteren oder Outfits, in die sie für die einzelnen Stimmen schlüpft. Das Ergebnis sind 30 bis 50-sekündige sehens- und hörenswerte Clips, die Spaß machen – und in denen bis zu ein halber Tag Arbeit steckt.
Stimmtraining und Sport
„Gleichzeitig helfen mir die Aufnahmen auch, an meiner Intonation zu arbeiten. Sie sind ein gutes Stimmtraining“, so Alice Wittmer, die auch darüber hinaus konsequent an ihrer Stimme und ihrer Fitness arbeitet. Sie geht einmal wöchentlich zum Gesangsunterricht, Stimm- und Sprechtraining am eigenen Mikrofon gehören zu ihrem Alltag. Sie macht Yoga und regelmäßig EMS-Training mit einem Personal Trainer. „Gerade bei einer so langen Auszeit, wie wir sie jetzt zwangsläufig haben, ist es wichtig dranzubleiben, die Maschine am Laufen zu halten“, sagt Alice Wittmer mit einem Lächeln.
Endlich wieder auf der Bühne stehen
Schließlich möchte sie so bald wie möglich ihren Beruf wieder ausüben. Und sie möchte auf jeden Fall noch in diesem Jahr in TINA auf der Bühne stehen. Wenn sich der Vorhang im Hamburger Operettenhaus wieder heben darf, sind für die Darstellerin acht Shows pro Woche die Regel. „Dafür möchte ich 100-prozentig fit sein, wenn es wieder losgeht“, betont Alice Wittmer und man merkt ihr die Vofreude auf die Zeit der Theateröffnungen mit jedem Wort an: „Wenn sie sagen, morgen können wir loslegen – dann bin ich um Mitternacht da und startklar. Schließlich ist es das, was ich machen will.“
Die Theaterliebe-Rezension von der Sherlock-Premiere mit Alice Wittmer lest ihr hier.