Anatevka in Hagen: Zwischen Tragik und Glück

Geigenklänge durchbrechen die erwartungsvolle Stille im Saal. Gespielt vom Geiger auf dem Dach. Einer Figur, die dem Musical „Anatevka“seinen englischen Originaltitel gab: Fiddler on the Roof. Mit dem 1964 uraufgeführten Werk von Joseph Stein und Jerry Bock zeigt das Theater Hagen eine Inszenierung, die unterhält, berührt und gekonnt zwischen Glück und Tragik balanciert.

Eine Welt im Umbruch

Die Balance halten, das müssen auch die jüdischen Bewohner von Anatevka, einem Schtetl im zaristischen Russland im Jahr 1905. In einer Welt im Umbruch, voller gesellschaftlicher Spannungen, revolutionären Unruhen und mit zunehmenden Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. „Wir alle sind Fiedler auf dem Dach,“ sagt darum auch die Hauptfigur Tevje direkt zu Beginn des Stücks, das auf den Kurzgeschichten von Scholem Aleichem beruht, einem jiddischen Autor, der 1905 aus dem russischen Zarenreich floh, um antijüdischen Pogromen zu entkommen.

 

Authentisches Charakterporträt

Ansgar Schäfer gibt einen großartigen Tevje. Er hadert und hinterfragt, feiert und flucht, trauert und tanzt, ist mal stur, mal verletzlich. In jeder Szene zeichnet er das authentische Charakterporträt eines hart arbeitenden Mannes, der seinen Humor  und seinen Glauben nie verliert. Und der es – fest in seinen Traditionen verhaftet – dennoch versteht, dazuzulernen und auch sein Weltbild und sich selbst zu hinterfragen. Bewegend gelingt die Szene mit Ehefrau Golde (resolut und stark: Kristine Larissa Funkhäuser), in der er seine eigene Ehe in den Blick nimmt und sie fragt: „Ist es Liebe?“. Berührend seine Entscheidung als liebender Vater, seine Tochter entgegen aller Traditionen dennoch nicht zu verleugnen.

Große Ensemblenummern

Die enge Welt des Schtetls und des von Traditionen, Vorgaben und Erwartungshaltungen geprägten Zusammenlebens wird im Bühnenbild von Alfred Peter spürbar. Die hohen Häuser stehen eng beieinander, die Fronten lassen sich teilweise nach vorne bewegen, einige geben Einblick in die privaten Räume. Innen und außen, gesellschaftliches und privates Leben verschwimmen. Gleichzeitig lässt die Häuserzeile ausreichend Raum für die großen Ensemblenummern des Stücks, bei denen das gesamte Ensemble mit Chor und Ballett die Bühne und auch die Menschen im Publikum voller Energie und Spielfreude für sich einnimmt und der satte Klang aus dem Orchestergraben (Musikalische Leitung: Steffen Müller-Gabriel) für wahren Hörgenuss sorgt.

 

Bewegendes Wechselspiel

Überhaupt wechseln sich Momente voller Lebensfreude mit Szenen voller Tragik ab, stehen private Momente des Glücks bedrohlichen gesellschaftlichen Entwicklungen und Spannungen gegenüber. Dieses Wechselspiel bringt Regisseur Thomas Weber-Schallauer eindringlich und gleichzeitig unterhaltsam auf die Bühne. Er nimmt die Zuschauenden mit in den Mikrokosmos eines Schtetls aus dem frühen 20. Jahrhundert und rückt dabei gezielt die auch heute noch aktuellen Themen wie Heimatverlust, Flucht und Vertreibung in den Fokus. Denn auch wenn Augenblicke der Lebensfreude die tragischen Entwicklungen abfedern – ein Happy End gibt es in Anatevka nicht. Die jüdischen Bewohner werden aus ihrer Heimat vertrieben und ziehen ins Ungewisse – begleitet vom Geiger und seiner Melodie, der mit ihnen zieht.

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