Die Fäden der „West Side Story“ in der Hand

Wenn im Dortmunder Opernhaus West Side Story gespielt wird, ist Alexander Becker mittendrin – und doch nicht zu sehen. Sein Reich liegt am rechten Bühnenrand. Verborgen vor den Blicken der Zuschauer, hat der Münsteraner selbst aber alles im Blick. Alexander Becker ist Inspizient am Dortmunder Theater und für den organisatorischen Ablauf der Vorstellung verantwortlich. Bei ihm laufen alle Fäden einer Aufführung zusammen. An diesem Abend sind es die des erfolgreichen, bis auf den letzten Platz ausverkauften Bernstein-Musicals.

Das Zeichen zum Auftritt

Noch ist es ruhig, der Zuschauerraum verwaist, die Bühne leer. Das Inspizientenbuch liegt zugeschlagen auf dem Pult mit den drei Monitoren, dem Mikrofon, den vielen Schaltern und Knöpfen. Von hier aus steuert Alexander Becker die Vorstellung, gibt die Zeichen zum Auftritt, für Spezialeffekte oder Umbauten auf der Bühne. Das Buch ist dazu sein roter Faden: „Der gesamte Text, alle Noten und Regieanweisungen sind hier drin“, erklärt er und blättert durch die mehrere hundert Seiten starke Kladde. Handschriftliche Notizen, farbige Aufkleber und Zahlen verteilen sich im Text und über den Noten. Insgesamt 100 solche Zeichen, so genannte Cues, gibt Alexander Becker an diesem Abend an Techniker und Darsteller weiter.

Zum Soundcheck

Der erste Einruf an diesem Abend ist allerdings nicht im Buch vermerkt: „Alle Beteiligten bitte zum Soundcheck“, spricht der Inspizient 90 Minuten vor Vorstellungsbeginn ins Mikrofon. Schon kurze Zeit später klingen die ersten Sätze und Songfetzen den noch leeren 1.170 Plätzen im Zuschauerraum entgegen. Darstellerinnen und Darsteller kommen und gehen, singen und sprechen in die Mikrofone, gehen Teile ihrer Choreographien noch einmal durch. Während Maria-Darstellerin Iréna Flury kurz „I feel pretty“ an- und die Technik den Sound abstimmt, überprüft Alexander Becker ein letztes Mal den Bühnenaufbau, hält nach Unebenheiten oder Stolperfallen Ausschau, die während der Vorführung zur Gefahr werden können.

Das Motto: cool bleiben

„Wenn etwas passiert, bin ich der erste, der reagieren muss“, so Becker. Erlebt hat er in seinen elf Jahren als Inspizient zum Glück noch keine großen Unfälle, aber bereits so manche Überraschung: einen Feueralarm im „Rosenkavalier“ zum Beispiel, eine kaputte Drehbühne in der „Fledermaus“ oder auch mal Darsteller, die ihre Requisiten vergessen. „Eingreifen kann man nicht immer“, weiß Alexander Becker. Aber: „Man muss cool bleiben. Und nicht nervös werden. Wer nervös wird, der macht Fehler.“

Alle auf Position

19 Uhr. Die Zuschauer nehmen ihre Plätze ein. Ein Surren aus Stimmen liegt in der Luft. Die Atmosphäre hinter der Bühne schlägt schlagartig um. Entspannte Vorfreude weicht einer konzentrierten Anspannung. 140 Menschen – vom Orchester über das Ensemble, die Requisite und Maske bis hin zum Ton – sind auf und hinter der Bühne an dieser Aufführung beteiligt. Sie alle haben ihre Plätze eingenommen. Auf dem Requisitenwagen liegen Kasettenrekorder, Zigaretten oder Colakisten bereit, blaue und rote Ballons schweben sicher festgeknotet vom Rahmen auf, eine Stuhlreihe mit Anzügen für den ersten Kostümwechsel der Jets und Sharks steht auf der linken Seitenbühne; genau gegenüber sammelt sich jetzt das Ensemble. Alexander Becker verkabelt sich, prüft die Funkverbindung ein letztes Mal, lässt die Handy-aus-Ansage durch das Theater klingen. Dann sein nächster Einruf: „Alle Beteiligten auf Position. Wir werden in wenigen Minuten beginnen.“

Auswendig: Jede Note. Jedes Wort. Jeder Cue

Die Vorstellung läuft. Die Sharks und Jets kämpfen und tanzen um die Vorherrschaft auf der Straße. Alexander Becker verfolgt das Geschehen auf und vor der Bühne über die Monitore, blickt immer wieder konzentriert in das Inspizientenbuch. Er kenn das gesamte Stück auswendig. Jede Note. Jedes Wort. Jeden Cue. „Das ist wichtig“, sagt er mit gesenkter Stimme. „Sollte etwas passieren, darf ich mich nicht in den Noten verlieren. Ich muss immer wissen, wo wir sind.“ Spricht´s und gibt wie nebenbei den Einsatz für die Technik, das schrottreife Auto auf der Bühne in Flammen „aufgehen“ zu lassen. Kurze Zeit später der nächste Cue: die Trillerpfeife von Officer Krupke erklingt.

Kleiner Ausfall

Die Seitenbühne gegenüber: Tony-Darsteller Anton Zetterholm bereitet sich noch abseits vom Scheinwerferlicht auf dem Dach der Tankstelle auf seinen ersten Auftritt an diesem Abend vor. Acht Mal wird das zentrale Bühnenelement mit der großen Lichtreklame rein- und rausgefahren, mehrfach vom Brautmodenladen zur Tanke gedreht. „Achtung bitte für Tankstelle raus“, heißt es dann auch kurz darauf. Es folgt Szene auf Szene. Cue auf Cue. Plötzlich fällt der Mikroport eines Darstellers aus. „Und schon passiert doch was“, sagt der Inspizient noch, bevor er sich mit Regieassistent Dominik Kastl und der Technik kurzschließt. Kurze Zeit später ist ein Handmikro im Spiel, der Mikroport wird für die nächste Szene ausgewechselt. Dann folgen weitere Cues, die Außenstehenden nichts, Ton und Licht aber viel sagen: „168 ab. Die 109 ab. Die 170 ab.“

Absolute Stille

Vier Premieren begleitet jeder Inspizient in Dortmund jede Spielzeit, hinzu kommen die jeweiligen Aufführungen der Stücke. Neben West Side Story sind es für Alexander Becker aktuell auch „Aida“, „Turandot“ oder „Das Land des Lächelns“. Ein wirkliches Lieblingsstück hat Alexander Becker, der auch als Regisseur tätig ist, dabei nicht: „Der Barbier von Sevilla“ war toll, „Land des Lächelns“ mache ich gerne und auch „West Side Story“ ist super.“

Das Musical ist mittlerweile im zweiten Akt. Während der Traumszene zu „Somewhere“ wabern die Nebelschwaden bis in die Seitenbühne. Dort und auch im Zuschauerraum herrscht absolute Ruhe. Auch die Cues von Alexander Becker kommen mit leiser Stimme durchs Mikrofon. Je mehr sich die Dramatik des Stückes zuspitzt, desto greifbarer wird die Stille im gesamten Theater – die in der finalen Szene vom Schuss durchrissen wird. Das Zeichen hierfür liegt nicht in Alexander Beckers Hand. „Der Ton sitzt im Saal und „feuert“ den auf den Punkt ab“, so der Inspizient. Während Tony auf der Bühne in Marias Armen stirbt, bittet er per Einruf bereits zum Schlussapplaus.

Aufstellen zum Applaus

Kaum kommen die Darstellerinnen und Darsteller von der Bühne, stellen sie sich zur Applausordnung auf. „Diesmal war es viel“, sagt Anton Zetterholm und „kämpft“ mit dem Kunstblut, das Hemd und Shirt voller roter Flecken. Iréna Flury wischt sich die rote Farbe schnell von den Händen – und schon geht es raus. Einmal. Zweimal. Das Publikum ist begeistert. „War´s das?“, fragt Alexander Becker scherzhaft ins Mikro. „Bestimmt nicht.“ Er schickt das Ensemble ein weiteres Mal hinaus, um den verdienten Applaus entgegenzunehmen. Dann fällt der Vorhang. Die Seitenbühne ist von Stimmengewirr erfüllt, die Stimmung gelöst. Alexander Becker füllt den Vorstellungsbericht aus, blickt lächelnd auf den Trubel: „In wenigen Minuten ist es hier ganz leer. Dann sieht es so aus, als wäre nichts gewesen“, sagt er – und schlägt das Inspizientenbuch zu.