„Dieses Stück holt dich ein.“

Carin Filipčic und Mathias Edenborn über die Magdeburger Inszenierung von „Fast normal“

Was ist normal? Und wie normal kann ein Familienalltag zwischen Therapie, Trauma und Teenie-Sorgen sein? „Fast normal“ von Tom Kitt und Brian Yorkey setzt da an, wo viele Musicalstoffe aufhören. Das Rock-Musical gibt einen ungeschönten Blick auf das Leben mit einer bipolaren Störung – und die Auswirkungen, die diese Krankheit auf all die Menschen hat, die mit ihr leben müssen. Anfang Oktober feierte eine Inszenierung des unter anderem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Stückes am Theater Magdeburg Premiere. Theaterliebe hat mit den Hauptdarstellenden Carin Filipčić und Mathias Edenborn über ihre Rollen, die Inszenierung und das Besondere von Stadttheater-Produktionen gesprochen.

Anfang Oktober haben Sie mit „Fast normal“ in Magdeburg Premiere gefeiert. In Kassel und Bern wird es weitere Inszenierungen geben. Hat dieses Stück durch die Corona-Pandemie und ihre Folgen in Bezug auf psychische Erkrankungen eine neue Aktualität bekommen?

Carin Filipčić: Ich kann mir schon vorstellen, dass das Stück durch die Pandemie noch einmal eine andere Aktualität bekommt. Aber natürlich gibt es psychische Erkrankungen wie Depressionen schon immer. Es ist einfach nur nicht populär, darüber zu sprechen. Ich glaube, wir leben in einer Zeit, in der wir perfekt sein müssen. In der wir gesund sein müssen, uns am besten vegan ernähren, schlank und glücklich sein müssen. Da haben diese Sachen keinen Platz. Aber sie existieren ja. Es gibt sie. Und jeder hat sein Päckchen zu tragen, über das oft auch nicht gesprochen wird.

Mathias Edenborn: Es gibt so eine toxische Positivität in der heutigen Gesellschaft. Traurig oder unsicher zu sein, wird oft als Schwäche gesehen. Für mich sind Gefühle aber eine Stärke.

Sie spielen in „Fast normal“ das Ehepaar Diana und Dan Goodman. Haben Sie eine feste Routine, wie Sie sich eine Rolle erarbeiten oder ist das immer auch abhängig von dem Stück an sich oder dem Regisseur?

Carin Filipčić: Bei mir ist es sehr unterschiedlich. Wenn ich eine Komödie spiele, dann kümmere ich mich mehr um das Timing, um den Humor. Dann mache ich weniger Vorarbeit. Aber wenn ich eine Rolle wie diese spiele, dann muss ich vorarbeiten. Was sind eigentlich Depressionen? Was ist Bipolarität? Wo liegt der Unterschied zur Schizophrenie? Was macht man bei einer Elektrokrampftherapie? Das sind schon Dinge, die ich wissen möchte. Und ich schaue mir haargenau an, wie die Konstellationen der Rollen zueinander sind.

Mathias Edenborn: Man tastet sich bei den Proben langsam an die Rolle heran. Der Regisseur ist ja der Kapitän des Schiffes und hat eine Vision, wohin die Reise gehen soll. Man spricht über die Charaktere, über den Text und so entwickelt sich die Interpretation. Schritt für Schritt.

Carin Filipčić: Ja, man muss sich auf den Regisseur und seine Visionen einlassen. Wenn man sehr gut vorbereitet ist, kann das schwierig sein. Meistens habe ich dann schon eine eigene Vision, die ich kaum mehr loslassen kann. Es ist also immer auch eine Gratwanderung zwischen: Was arbeite ich vor und was lasse ich auf mich zukommen.

Tobias Ribitzki ist Regisseur der Magdeburger Inszenierung. Wie haben Sie seine Herangehensweise erlebt?

Mathias Edenborn: Er weiß sehr genau, wohin er mit dem Stück will. Gleichzeitig hat er sich auf uns eingelassen, unsere Persönlichkeit in seine Vision mit einbezogen. Er arbeitet ganz bewusst mit einem schlichten Bühnenbild. Die Geschichte ist das Wichtigste, sie steht im Zentrum.

Carin Filipčić: Gemeinsam mit dem Bühnenbildner Stefan Rieckhoff hat Tobias Ribitzki wirklich ein großartiges, sehr schlichtes Seelenbühnenbild gemacht. Mit einem Raum, einem Tisch und vier Stühlen. Wir haben kaum Requisiten, mit denen wir spielen. Es ist alles sehr schlicht. Der Fokus liegt ganz auf uns. Das bedeutet natürlich auch: Wir sind ganz auf uns zurückgeworfen. Man kann sich nirgendwo verstecken – es gibt kein Ensemble, kein Tanzensemble. Man ist die ganze Zeit in der Problematik verhaftet. Und ich glaube, das ist das Spannende bei diesem Stück

Wenn der Fokus so intensiv auf den Darstellenden liegt – erfordert das nicht auch eine besondere Ehrlichkeit im Spiel?

Carin Filipčić: Absolut. Das geht gar nicht ohne. Du musst einsteigen. Wenn du in der dritten Szene noch nicht drinnen bist, dann wird es schwierig. Aber das Besondere an dem Stück ist: Wenn es einmal losgeht, dann läuft es einfach. Man denkt gar nicht daran, dass man mal rausfallen könnte. Und das Geniale ist auch: Wir sind zu sechst und wir können uns aufeinander verlassen. Ich kann mich auf Mathias verlassen. Er fängt mich auf. Ich kann mich auf meine Kinder verlassen. Auf Dr. Madden. Also auf die Darstellenden (sie lacht).

Mathias Edenborn: Man muss eintauchen in die Rolle. Authentisch sein. Es gibt Stücke, die nicht so gut geschrieben sind. Da musst du extra kämpfen, um deinen Fokus zu behalten. Dieses Stück ist so emotional und voller Gefühle, die Musik ist fantastisch. Es holt dich ein, ist so intensiv. Da muss ich eher schauen, dass ich nicht zu tief reingehe. Für mich ist es wichtig, einen Weg finden, sich von dem Stück zu trennen, wenn man nach Hause geht.

Carin Filipčić, was ist für Sie an der Rolle der Diana Goodman so besonders?

Carin Filipčić: Ich finde es spannend, dass Diana so in ihrem Trauma gefangen ist, dass sie ihre eigene ganze Welt mit hinunterreißt. Ihren Mann, ihre Tochter. Sie will sich dem eigentlichen Kern ihres Traumas nicht stellen. Aus den unterschiedlichsten Gründen. Als sie das aber tut, trifft sie eine Entscheidung. Und das ist für eine Frauenfigur in unserer Zeit schon etwas sehr, sehr Geniales. Dass sie entscheiden kann, ich gehe. Ich muss gehen. Das birgt auch Zündstoff. Natürlich stellt sich die Frage: Ist das der richtige Weg? Darüber habe ich selbst auch viel nachgedacht.

Dan Goodmann versucht, das Bild einer „normalen“ Familie aufrechtzuerhalten. Mathias Edenborn, gibt es etwas, was bei der Darstellung des Ehemanns für Sie besonders herausfordernd ist?

Mathias Edenborn: Für mich gibt es in Dan einen riesigen Gegenpol. Es ist klar, dass er Diana liebt. Gleichzeitig sind da viel Wut und Enttäuschung – wegen der Erkrankung, die ein normales Familienleben so schwer macht. Die Liebe zu spüren und zu zeigen wird schwierig, weil man so sehr kämpft. Das ist für mich als Darsteller ein Bruch. Ich habe unseren Regisseur oft gefragt: Sieht man genug Liebe? Kommt das rüber? Ist da nicht zu viel Enttäuschung? Das ist für mich die Herausforderung.

Wie haben Sie die Probenzeit erlebt?

Carin Filipčić: Die Probenzeit war eine der intensivsten, aber auch der großartigsten in meiner ganzen Karriere.  Mich haben die Proben sehr, sehr glücklich gemacht, weil es einfach zur Sache geht (lächelt). Ich musste mich selbst immer wieder überprüfen und steigern. Denn schauspielerisch ist die Rolle der Diana Goodman wahnsinnig anspruchsvoll und spannend.

Mathias Edenborn: Das hängt natürlich immer auch von der Rolle ab. Für mich war die letzte Probenwoche besonders intensiv. Bis dahin habe ich die ganze Zeit versucht, die Gefühle, die das Stück in mir hochbringt, zu unterdrücken. Aber dann haben mich die Emotionen eingeholt und ich hatte einfach keine Wahl mehr.

 

Sie haben beide schon in En-Suite-Produktionen gespielt. „Fast normal“ ist eine Stadttheater-Produktion. Ist das eine Abwechslung, die Sie bewusst suchen?

Carin Filipčić: Ich schon. Ich liebe es En-Suite-Produktionen zu machen. Ich mache das sehr gern. Das ist oft sehr familiär und natürlich sind die großen Häuser wahnsinnig toll ausgestattet – in allen Belangen. Die Arbeit am Stadttheater heißt auch: back to basic. Es ist eine andere Art Theater zu machen und zu arbeiten. Wenn man ein Stück ein bis zwei Mal pro Monat spielt – was uns bevorsteht – bedarf das einen ganz anderen Fokus und eine ganz andere Herangehensweise, weil es nicht so frisch im System bleibt. Für mich ist das ganz wichtig. In diesen Produktionen steckt viel mehr „Theatergeist“.

Mathias Edenborn: Es hat Vor- und Nachteile. Künstlerisch ist es viel herausfordernder im Stadttheater zu arbeiten, finde ich. Der Vorteil von En-Suite-Produktionen ist, dass du ein „normales“ Leben hast. Du hast deinen Alltag. Musst nicht mit dem ICE durchs Land fahren. Weißt, dein Geld kommt jeden Monat. Und ich fühle mich wohl damit. Aber natürlich bist du im Stadttheater anders herausgefordert. Für den Künstler in dir ist es viel schöner.

Als Darsteller prägen Sie die Rollen, die Sie spielen. Welche Rollen haben auch Sie als Darsteller besonders geprägt?

Mathias Edenborn: Bei jeder Rolle denke ich, die passt perfekt zu mir. So als wäre sie für mich geschrieben worden (er lacht). Das liegt natürlich daran, dass ich jeder Rolle etwas von mir gebe. Ich spiele diese Rolle und dann wird sie zu meiner. Darum ist es für mich auch schwierig, eine bestimmte rauszusuchen. Meine Rollen waren sehr unterschiedlich, aber auf ihre Art auch alle schön.

Carin Filipčić: Mich hat die Rolle der Mrs. Lovett in Sweeney Todd sehr geprägt. Die Inszenierung von Karl Sibelius war so intensiv und die Herangehensweise so völlig anders, als ich Sweeney Todd bis dahin gesehen habe. Das hat etwas in mir aufgebrochen. Da habe ich gemerkt:  Das kann ich ja auch. Aber ich habe auch oft das Gefühl, dass die Rolle, die ich jetzt gerade spiele, maßgeblich ist und mich immer wieder neu herausfordert.

„Fast normal“ ist in dieser Spielzeit bis Februar in Magdeburg zu sehen. Was wünschen Sie sich für die Produktion – außer vielleicht, dass der Theaterbetrieb von Corona und steigenden Inzidenzen unberührt bleibt?

Carin Filipčić: Mir macht eher Sorgen, dass die Menschen über die letzten zwei Jahre hinweg vergessen haben, was ein Theaterabend bewirken kann. Und „Fast normal“ ist ein Theaterabend für jeden. Jeder wird etwas in dieser sehr dichten, intensiven Schilderung einer Familiensituation finden, womit er sich identifizieren kann.

Mathias Edenborn: Ich glaube auch, wenn sie einmal drin sind, dann haben sie keine Wahl mehr. Dann wird das Stück sie packen. Es ist einfach so gut. Und wünschen würde ich mir, dass einige von denen, die kommen, verstehen, wie wichtig es ist, miteinander zu reden, zu seinen Gefühlen zu stehen. Und vielleicht auch einfach mal zu sagen: Mir geht es gerade nicht gut.

Weitere Infos zu „Fast normal“ in Magdeburg gibt es hier.