Große Emotionen: „Der Besuch der alten Dame“ in Tecklenburg

Nach zweijähriger Corona-Verschiebung melden sich die Freilichtspiele Tecklenburg endlich zurück auf der deutschen Musical-Landkarte. Als Pendant zur Feel-Good-Show „Sister Act“ präsentieren sie mit „Der Besuch der alten Dame“ nicht nur ein hochemotionales Drama, sondern auch eine deutsche Erstaufführung. Denn auf die Uraufführung im schweizerischen Thun (2013) folgten lediglich weitere Aufführungen in Wien (2014) und Tokio (2015).

Es erweist sich als Glücksgriff, dass das auf der Tragikomödie von Friedrich Dürrenmatt basierende Musical endlich den Weg auf eine deutsche Bühne gefunden hat – insbesondere, wenn es so fabelhaft inszeniert wird wie von Ulrich Wiggers in Tecklenburg.

Wiggers schöpft mittlerweile aus einem großen Erfahrungsschatz als Regisseur, der schon mehrfach in Tecklenburg und vielfach anderweitig Open-Air-Produktionen inszeniert hat. So ist auch beim „Besuch der alten Dame“ seine Handschrift unverkennbar. Vor allem seine filmisch fließenden Szenenübergänge sind sein Markenzeichen und bringen eine wunderbare Dynamik und Tempo in die Handlung.

Die Personenregie ist Ulrich Wiggers ebenfalls bestens gelungen. So zeichnet er starke Rollenprofile und setzt in den Rückblenden verstärkt auf die Interaktion von Claire Zachanassian und Alfred Ill mit ihren jüngeren Ebenbildern. Darüber hinaus hält sich der Regisseur an Dürrenmatts Vorlage hinsichtlich der Handlung, die in der Gegenwart spielt. Dass zum Beispiel Smartphones und Videotelefonie zum Einsatz kommen, ist somit gut nachvollziehbar und keinesfalls modernes Regietheater.

 

Ohnehin wird schnell klar, wie brandaktuell und heutig der Stoff ist, was neben dem genialen Original von Dürrenmatt auch ein Verdienst von Christian Struppeck (Buch) und Wolfgang Hofer (Liedtexte) ist, die es geschafft haben, die Originalgeschichte von 1956 behutsam in ein modernes Musical zu transferieren.

Moritz Schneider und Michael Reed haben dazu eine eingängige und symphonische Musik komponiert, die die Geschichte in stimmstarken Ensemblenummern,  großen Soli und emotionalen Duetten erzählt. Unter der Leitung von Tjaard Kirsch bringen mehr als 20 Musikerinnen und Musiker die Story rund um das fiktive Schweizer Städtchen Güllen effektvoll zum Klingen – dabei immer wieder dominierend: die ausladenden Streicherklänge.

Aufgewertet wird „Der Besuch der alten Dame“ durch Bart De Clercq, der nicht nur Bewegung in die Ensembleszenen bringt, sondern auch schmissige Sambaschritte für das „Trio Infernal“ erdacht hat und seine dynamische Choreografie mit der Regie von Ulrich Wiggers zu einem Gesamtkunstwerk verschmelzen lässt.

Ganz wunderbar verschmelzen außerdem die zeitgemäßen und sehr gut zu den jeweiligen Rollen passenden Kostüme von Karin Alberti und das aufwändig-detaillierte Bühnenbild von Jens Janke. Insbesondere bei Ills Laden hat sich Janke in Details zwischen Konservenbüchsen und Zigarettenschachteln geradezu ausgetobt. Darüber hinaus hat er das rechte Tor der alten Tecklenburger Burganlage kurzerhand in den Güllener Bahnhof umfunktioniert und eine kleine Polizeistation geschaffen. Als funktionaler Hingucker und zentrales Element erweist sich weiterhin das Hotel „Zum Goldenen Apostel“. Die Verwandlung vom armen, seelenlosen und heruntergekommenen Städtchen im ersten Akt zum immer mehr aufblühenden Ort im zweiten Akt geht ebenfalls auf das Konto von Jens Janke.

Ohne Ausnahme begeistern kann zu guter Letzt das Ensemble. Allen voran ist es Masha Karell als Claire Zachanassian, die das größte Päckchen des Abends zu tragen hat – und das gelingt ihr außerordentlich beeindruckend. Sie versteht es exzellent, einerseits die kalte, abgebrühte und rachsüchtige alte Dame namens Claire zu mimen und andererseits dem zutiefst gekränkten, enttäuschten und diffamierten jungen Mädchen namens Kläri, die noch immer in Claire schlummert, eine authentische Kontur zu verleihen. Mit markerschütternd gutem Schauspiel und einer starken Stimme macht sich Karell jede ihrer Szenen zu eigen.

Ihr in nichts nach steht Thomas Borchert als Alfred Ill. So fasziniert er gesanglich einmal mehr mit seinem strahlenden Baritenor und gibt sich schauspielerisch jeder Szene mit einer unglaublichen Intensität hin. Die Entwicklung vom geschockten und immer mehr in Panik verfallenden Kaufmann, auf den ein Kopfgeld ausgesetzt wurde, zu einem gebrochenen Menschen, der sich seinem Schicksal ergibt, ist schlichtweg großartig.

Als junge Kläri und junger Alfred sind Katia Bischoff und Fabio Diso ein wunderbares Paar, die schauspielerisch und tänzerisch die Szenen mit ihren älteren Ichs enorm aufwerten und dabei gesanglich verzaubern. Auch Navina Heyne als Alfreds Ehefrau Mathilde gefällt schauspielerisch wie gesanglich auf ganzer Linie, denn sie verleiht dem buchbedingt eher blassen Charakter durch ihre Bühnenpräsenz ein nachdrückliches Profil und singt herrlich mit glockenklarem Sopran.

Die ekelhafte Scheinheiligkeit der Güllener stellen Martin Pasching als Bürgermeister, Alexander di Capri als Lehrer, Benjamin Eberling als Pfarrer und Andreas Goebel als Polizist ausgezeichnet dar, indem sie ein durchtriebenes, fast schon bösartiges Quartett bilden, aus dem lediglich der Lehrer auszubrechen versucht und es doch nicht wirklich schafft. Alexander di Capri weiß den von Gewissensbissen geplagten Mann schauspielerisch glaubhaft darzustellen und fasziniert darüber hinaus mit einer fantastischen Stimme.

 

Das Bodyguard-Trio von Claire Zachanassian bringt mit dem stimmungsvollen Song „Trio Infernal“ eine unerwartete Komik in die ansonsten vor Tiefgang nur so strotzende Handlung. Das wirkt einerseits wie ein Fremdkörper, passt andererseits aber zu Dürrenmatts Vorlage, die als Tragikomödie die Merkmale der Tragödie und Komödie eng miteinander verknüpft. Gemessen an den Publikumsreaktionen, erweist sich das Trio mit seiner Nummer ohnehin als Showstopper, was auch an der genialen Darstellung von Jochen Schmidtke (Loby), Michael B. Sattler (Toby) und Andrew Chadwick (Roby) liegt, die ebenso positiv in Erinnerung bleibt wie Lasarah Sattler, die als Lena zwar nur eine kleine Rolle hat, aber gesanglich aufhorchen lässt.

Der kaum enden wollende Applaus zum Schluss und viele sehr gut verkaufte Vorstellungen untermauern den Eindruck, dass mit „Der Besuch der alten Dame“ ein ganz besonderes Musical seinen Weg auf eine deutsche Bühne gefunden hat. Bleibt zu hoffen, dass dieses Meisterwerk nicht wieder für einige Jahre in der Schublade verschwindet, sondern sich weitere Theater finden, die das Stück künftig aufführen.

Text: Dominik Lapp, kulturfeder.de