Beeindruckend und berührend: Les Misérables in Tecklenburg

Während Les Misérables seit nunmehr 33 Jahren im Londoner Westend gespielt wird, war das Bühnenwerk von Alain Boublil und Claude-Michel Schönberg in den letzten Jahren in deutschen Theatern selten bis gar nicht zu sehen. Für diesen Sommer konnten sich die Freilichtspiele Tecklenburg die Aufführungsrechte sichern und zeigen das Musical nach dem gleichnamigen Roman von Victor Hugo bereits zum zweiten Mal: Nachdem die renommierte Freilichtbühne 2006 die erste Inszenierung des Werks unter freiem Himmel präsentierte, begeistert sie zwölf Jahre später mit einer starken, von den Zuschauern gefeierten Neuinszenierung.

Von Verrat und Vergebung

Frankreich zwischen 1815 und 1832. In diesem Zeitraum entwickelt sich die Handlung rund um den Ex-Sträfling Jean Valjean. Hier verwebt sich sein Schicksal mit dem des unnachgiebigen Inspektors Javert, mit dem der mittellosen Fabrikarbeiterin Fantine und ihrer Tochter Cosette sowie dem der Studenten rund um Revolutionsführer Enjolras. Ihren Höhepunkt findet die Geschichte um Verrat und Vergebung, Liebe und Leid, Unterdrückung und Freiheit beim Pariser Juniaufstand von 1832.

Großartige Ensembleszenen

Ulrich Wiggers setzt den beliebten Musicalklassiker eindrucksvoll in Szene (Fotos: Stephan Drewianka) und versteht es, trotz der Vorgaben der Lizenzgeber, eigene, wirkungsvolle Akzente zu setzen. Der Regisseur weiß die gesamte Fläche der großen Bühne, ihre vielen Zu- und Abgänge, Ebenen und Schauplätze geschickt zu nutzen. Das verleiht dem immerhin rund drei Stunden langen Werk eine angenehme Dynamik ohne die leisen Momente zu vernachlässigen.

So sind es nicht allein die großartig umgesetzten Ensembleszenen mit Chor und Statisten, die insbesondere bei  „Am Ende vom Tag“, „Herr im Haus“ und – dem mit Standing Ovations bedachten – „Morgen schon“ in Erinnerung bleiben. Besonders bemerkenswert umgesetzt ist auch der außergewöhnlich inszenierte Selbstmord Javerts sowie die atmosphärisch äußerst gelungene Szene im Sterbezimmer Valjeans: Leichte, transparente Schleier und ein stimmiges Lichtdesign schaffen den Rahmen für das Nebeneinander von Diesseits und Jenseits und für einen emotionalen Abschied.

Detailreiches Bühnenbild

Das Bühnenbild von Susanna Buller ist detailreich und versetzt die Zuschauer mal in das Pariser Elendsviertel, mal in Thenadiers Wirtshaus oder das Café, in dem die Studenten ihre Revolte planen. Die Barrikaden türmen sich auf zwei zusammengeschobenen Karren zusammen und bilden eine imposante Kulisse für die alles entscheidende Schlacht. Die Kostüme (Karin Alberti) entsprechen ganz der jeweiligen Zeit und dem Status der Protagonisten sowie ihrer Entwicklung. Kati Heidebrecht hat zudem Choreografien entwickelt, die das Geschehen ausdrucksstark untermalen und vorantreiben: Die Choreografie zum „Lied des Volkes“ transportiert die Entschlossenheit und Wut der Revolutionäre und schafft ein nachhaltiges Bild.

Starke Darstellerriege

Ein weiterer großer Pluspunkt der Inszenierung ist die Besetzung: Patrick Stanke gelingt als Jean Valjean ein intensives Rollenporträt, das beeindruckt und berührt. Glaubhaft zeichnet Stanke die Entwicklung der Hauptfigur in allen ihren Lebensphasen nach. Ob als von Wut und Verzweiflung getriebener Sträfling, als angesehner Bürgermeister, fürsorglicher Vater oder alter Mann kurz vor seinem Tod: Seine Darstellung ist durchweg authentisch und gesanglich ausgezeichnet. Ihm gegenüber steht Kevin Tarte als Inspektor Javert. Er gibt Valjeans Kontrahenten kühl und unnachgiebig; gleichzeitig macht er den Konflikt eines Mannes deutlich, dessen Weltbild durch die Barmherzigkeit und den Wandel Valjeans bis in die Grundfesten erschüttert wird.

Milica Jovanovic hat als Fantine nur wenige Szenen, versteht es aber, diese zu Höhepunkten der Inszenierung zu machen. Ihre klare, warme Stimme, ihr intensives Spiel sowie insbesondere ihre Interpretation von „Ich habe geträumt vor langer Zeit“ werden vom Publikum mit begeistertem Applaus bedacht. Einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt auch David Jakobs als charismatischer Revolutionsführer Enjolras. Sowohl gesanglich als auch in seinem Spiel weiß er auf ganzer Linie zu überzeugen.

Begeistertes Publikum

Jens Janke und Bettina Meske haben mit ihrer pointierten Darstellung des Ehepaars Thenadier nicht nur die meisten Lacher sondern auch das Publikum schnell auf ihrer Seite. Lasarah Sattler gibt als Eponine die vielen Facetten ihrer Figur überzeugend wieder; Florian Peters (Marius) und Daniela Braun (Cosette) harmonieren als jung verliebtes Paar. Ergänzt wird die starke Darstellerriege von einem tollen Ensemble, aus dem insbesondere Robert Meyer (Grantaire) und Florian Soyka (Bischof von Digne/Courfeyrac) hervorstechen.

Gekonnt führt Tjaard Kirsch das Orchester durch die anspruchsvolle Partitur. Die Komposition von Schönberg kann so ihre volle Wirkung entfalten. Kaum ist der letzte Ton verklungen, erhebt sich das Publikum jubelnd von den Sitzbänken und feiert eine Inszenierung, die „Les Misérables“ eindrucksvoll zurück auf die deutsche Bühne holt.