„Wir haben ein Bewusstsein dafür entwickelt, welchen Wert Kunst hat.“

Im Gespräch mit Jeannine Michèle Wacker

Seit ihrer Ausbildung an der American Musical and Dramatic Academy New York stand Jeannine Michèle Wacker auf zahlreichen Bühnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie hat fürs Fernsehen und fürs Kino gedreht, war Clara in „Sturm der Liebe“ und Bettina in der „Einstein-WG“. Aktuell nutzt die Schweizer Sängerin und Schauspielerin die Corona-Zwangspause und arbeitet in ihrer Wahlheimat Hamburg an ihren „Leidenschaftsprojekten“. Mit Theaterliebe sprach die sympathische Darstellerin über ihr Künstlerinnen-Leben zu Lockdown-Zeiten, ihre eigenen Songs, den Wert von Kunst und Kultur sowie die Musicalbranche nach der Krise.

Der Ausbruch der Corona-Pandemie ist nun bereits ein Jahr her. Wie hat dich die Corona-Krise als Künstlerin getroffen?

Ich hatte tatsächlich echt Glück und bin kein repräsentatives Beispiel dafür, wie schwer die Pandemie meine Branche getroffen hat. Im Sommer durfte ich in Chemnitz Hair spielen und bis vor dem zweiten Lockdown habe ich in Lüneburg für „Songs for a new world“ geprobt.

Sind für dich denn auch Produktionen und Projekte weggebrochen?

Mit „Songs for a new world“ mussten wir drei Tage vor der Premiere aufhören. Das war wirklich traurig. Wir haben so lange geprobt, waren so heiß darauf, das Stück auf die Bühne zu bringen. Jetzt wurde es schon mehrfach verschoben, weil auch der Lockdown ja immer wieder verlängert wurde. Geplant ist es aber weiterhin.

Und ich hätte auch ein Projekt in Hamburg gehabt, das jetzt nicht mehr zustandekommen wird. Die Proben sollten am 27. März beginnen – schlechtes Timing für 2020. Auch einige Vorstellungen meines „Theater-Babys“ Daddy Langbein standen noch an. Da habe ich in Bielefeld die deutsche Erstaufführung gespielt. Ob wir diese Termine aber nachholen können – das weiß ich nicht. Voraussichtlich haben wir es zum letzten Mal gespielt, ohne zu wissen, dass es das letzte Mal war. Also: Ja, ich hatte auch Verluste. Aber ich bin super dankbar, dass ich überhaupt spielen und proben durfte.

Wann die Darstellerin wieder in dem Zwei-Personen-Stück „Daddy Langbein“ auf der Bühne stehen wird, ist angesichts der Corona-Pandemie noch ungewiss. Foto: privat

Wie hast du die Lockdown-Zeiten erlebt bzw. wie empfindest du diese aktuell?

Mir war und ist keinen Tag langweilig. Ich hatte so viele Leidenschaftsprojekte, die schon so lange darauf gewartet haben, umgesetzt zu werden. Das habe ich dankbar aufgenommen. Möglich war mir das aber auch nur, weil ich aufgefangen wurde. Als Angestellte habe ich Arbeitslosengeld bekommen und auch eine Ausfallgage in Lüneburg. Das ist vielen meiner Kolleginnen und Kollegen nicht so gegangen. Ganz schlimm ist es für alle Selbstständigen unter uns. Da hat die Corona-Pandemie auch Missstände aufgedeckt, die vorher schon nicht cool waren und jetzt richtig bedrohlich wurden. Ich habe viele Musiker- und Schauspielkollegen, für die das wirklich krass ist. Und da bin ich auch der Meinung, dass hier viel mehr getan werden müsste.

Was glaubst du, wie die Kultur- und Musicalbranche aus dieser Krise hervorgehen wird?

Ich kann natürlich auch nicht in die Kristallkugel gucken. Aber ich möchte da einen optimistischen Filter haben. Deswegen hoffe ich, dass viele Theater so unterstützt werden, dass sie überleben. Was sich für Darstellerinnen und Darsteller ändern wird: Ich glaube, wir werden alle gewisse Klauseln nie wieder unterschreiben, weil sie bei einigen Kollegen so nach hinten losgegangen sind.

Ich finde aber auch, dass wir alle sehr viel stärker geworden sind, weil wir ein Bewusstsein dafür entwickelt haben, welchen Wert Kunst hat, wenn wir sie online rausbringen. Das wurde ja während der ersten Welle viel kritisiert und hinterfragt: Wie soll unsere Kunst denn irgendwas wert sein, wenn wir sie einfach umsonst anbieten?

Natürlich ist das auch schön und man hat als Künstler schnell das Bedürfnis, diese Rolle zu übernehmen: Hey, wir sind diejenigen, die euch zum Träumen verleiten, die euch die Sorgen vertreiben. Aber wenn wir das nur kostenlos machen und keine Systeme haben, die das monetarisieren und finanzieren – dann ist das irgendwann nicht mehr als Beruf machbar.

Das Musikvideo zu „The Artist and his Muse“ wurde in einem Chemnitzer Tunnel gedreht, der Teil einer Public Arts Exhibition war. Foto: privat

Viele Künstlerinnen und Künstler nutzen zum Beispiel Patreon. Auch du bist seit einigen Monaten auf dieser Plattform aktiv. Welche Rolle spielt ein solcher Kanal gerade in dieser Krise für dich?

Bisher ist es eine superschöne Erfahrung. Patreon gibt Menschen die Möglichkeit, Kunst, die ihnen gefällt, zu honorieren und Künstler:innen zu unterstützen. Gleichzeitig steht man in einer direkten Verbindung mit seinem Publikum. Ich gebe auf Patreon Livestream-Konzerte – teils mit Gästen – mache Zoom-Hangouts und monatliche Wunschvideos, early releases oder lasse über Cover abstimmen. Solche Sachen. Dabei merke ich: Ich habe eine Community, die mag, was ich mache. Und das habe ich so stark noch nie zuvor empfunden.

Auch zwei deiner eigenen Songs hast du zuerst auf Patreon veröffentlicht: „The Artist and his Muse“ und „GroßstadtMärchen“. Warum hast du dich für diese beiden entschieden?

Ich habe tatsächlich lange überlegt, in welcher Reihenfolge ich meine Songs rausbringen soll. Jetzt mache ich es chronologisch, weil für mich die Entwicklung auch Sinn macht. „The Artist and his Muse“ ist tatsächlich auch der älteste von denen. Die Gitarre und die Stimme hatte ich schon vor vier Jahren aufgenommen. Der Versuchung, das einfach auf Instagram oder Youtube rauszuhauen, habe ich ziemlich lange widerstanden. Darüber bin ich jetzt froh. Denn letztes Jahr im Mai hat Tino Horat noch die Klavierstimme dazugespielt – und das war für mich der missing link. Und dann hat es sich mit dem Musikvideo auch noch so gut gefügt, das ich in Chemnitz während der Spielzeit von Hair drehen konnte.

GroßstadtMärchen ist der zweite eigene Song, den die Wahl-Hamburgerin veröffentlicht hat – zuerst auf Patreon. Foto: privat

GroßstadtMärchen ist ein Song, mit dem sich für mich ein Kreis schließt. Ursprünglich war er Teil eines großen Albumprojekts, das dann aber geplatzt ist. Für mich persönlich war das ein absoluter Tiefpunkt. Es hat mir immer so wehgetan, dass dieser Song im Kämmerchen vor sich hinrottet. Also habe ich die Plattenfirma angeschrieben und gefragt, ob sie mir die Produktion verkaufen. Die Rechte an dem Song lagen noch bei mir. Das ging leichter, als ich dachte und ich konnte GroßstadtMärchen endlich rausbringen. Das hat mich so sehr gefreut und echt ein bisschen geheilt von dieser Erfahrung, die für mich damals wahnsinnig enttäuschend war. Mir das zurückzuholen und die positiven Reaktionen der Leute darauf zu erleben, war sehr schön für mich.

Wirst du dich – solange die Theater noch geschlossen sind – verstärkt aufs Songwriting konzentrieren?

Im Moment bin ich damit beschäftigt, die Songs die ich fertig habe, richtig gut verpackt rauszubringen: mit Musikvideo und Fotos dazu. Insgesamt habe ich noch fünf Songs aufgenommen. Aktuell bereite ich den nächsten Release vor: Im Februar wird „Bilder von uns“ erscheinen. Als nächstes wird eine EP rauskommen und dann noch ein weiterer Song. Und ein Livestream-Konzert mit Ann-Sophie ist ebenfalls für Februar geplant.

Aktuell lasse ich mir auch superviel für Patreon einfallen, um das Ganze für die Leute besonders attraktiv zu gestalten. Ich habe das Gefühl, dass ich da etwas geben kann, was wirklich fehlt im Moment: Kunst und Kultur. Im November und Dezember habe ich drei Livestream-Konzerte gegeben. Im Januar habe ich jeden Abend eine halbe Stunde aus Rilkes „Briefe an einen jungen Dichter“ und „Briefe an eine junge Frau“ vorgelesen. Und ich merke, dass das den Leuten, die dabei sind, gut tut. Sie haben eine feste Verabredung am Abend, machen etwas mit anderen zusammen – wenn auch nur am Computer – und setzen sich mit Literatur auseinander, zu der viele vorher noch keinen Zugang hatten. Ich habe das Gefühl, ich kann einen Beitrag leisten. Im Moment steht daher das Songwriting etwas hinten an.

Vielen Fernsehzuschauer:innen ist die gebürtige Schweizerin aus „Sturm der Liebe“ bekannt. Dort spielte sie die Rolle der Clara. Foto: privat

 

Du standest schon auf vielen Theaterbühnen, warst als Clara in „Sturm der Liebe“ im Fernsehen zu erleben und hast mit Singularity auch einen Film gedreht. Fühlst du dich künstlerisch überall zu Hause oder hast du eine klare Vorliebe?

Das ist super schwierig. Wenn ich mich entscheiden müsste, wäre es am Ende wahrscheinlich das Musical. Da komme ich her, da habe ich die meiste Zeit verbracht und da fühle mich zu Hause. Ich liebe diese Kunstform einfach sehr. Aber es war auch ein bewusst gesetztes Ziel von mir, soviel wie möglich auszuprobieren. Ich war so hungrig nach Erfahrungen und bin super dankbar, dass ich so viele davon machen durfte.

Scaramouche ist eine der Rollen, die Jeannine Michèle Wacker ins Herz geschlossen hat. Foto: privat

Gibt es denn Rollen oder Stücke, die du unbedingt einmal spielen möchtest?

Ja, die gibt es. Aktuell liegt eine coole Rolle vor mir, die schon lange auf meiner Liste stand. Welche das ist, darf ich aber noch nicht verraten. Zurzeit hoffe ich, dass diese Produktion auch stattfinden kann und wird. Auch würde ich wahnsinnig gerne mal Cathy in „The Last Five Years“ spielen und Natalie in „Next to Normal“ ist auch so eine Traumrolle. Und dann – das ist auch nichts Neues – würde mich auch so ein Klassiker wie Les Misérables mega reizen. Die Musik ist einfach wunderschön.

Hast du den unter den Charakteren, die du bereits gespielt hast, eine Lieblingsrolle?

Ich merke oft, dass meine Lieblingsrolle immer die ist, die ich gerade oder lange spiele. So wie Lauren in „Kinky Boots“, Scaramouche in „We will rock you“, aber auch Clara. Rollen, mit denen man viel Zeit verbringt, schließt man auch mehr ins Herz. Witzigerweise habe ich sowohl Lauren als auch Scaramouche bekommen und gar nicht damit gerechnet. Ich hatte mega Respekt vor diesen Rollen.

In Kinky Boots stand Jeannine Michèle Wacker als Lauren auf der Bühne. Fotos: privat

 

Was war der Grund dafür?

Ich habe mich nie als sonderlich lustig empfunden. Auch während meiner Ausbildung, also in meiner Klasse, war ich nicht die Lustige. Für die witzigen Rollen waren andere zuständig. Mittlerweile habe ich mehrere dieser Rollen gespielt und dadurch mehr Vertrauen in mich. Comedy ist etwas, was arg durch Praxis erlernt wird. An diesen beiden Rollen durfte ich besonders wachsen.

Welche Pläne hast du für 2021?

Naja, wie es weitergeht, ist wirklich schwer zu sagen. Ich habe ja schon erzählt, dass für mich eine große Produktion ansteht. Und ich hoffe einfach sehr, dass sie stattfinden wird. Mit diesem Job wäre ich auch eine Weile beschäftigt. Dann habe ich natürlich noch meine eigenen Songs. Und ich führe Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen für eine Zusammenarbeit und Live-Streams. Viel mehr kann ich tatsächlich noch nicht sagen, weil in der Theaterbranche zurzeit vieles so ungewiss ist.

Weitere Infos zu Jeannine Michèle Wacker findet ihr auf Instagram oder auf ihrer Webseite. Und hier könnt ihr die damalige Theaterliebe-Rezension zur Premiere von Kinky Boots lesen.